Heute
Heute. Kann sein, ich hatte den Alten schon längere Zeit beobachtet. War sonst nichts los auf dem Bahnhof. Ich erschrak, als er mir zuzwinkerte. Seine Augen funkelten: "Wir kennen uns." - "Aber nein, nein, nein.“ Es war ein Nein zuviel. „Ich bedaure, aber..." - Er begütigend: "Es ist so, wie ich sage. Wir haben zusammen in den Fünfzigern studiert. An der TH Darmstadt. Ich habe Sie sofort erkannt. Sie haben sich kaum verändert." Ich konnte meine Hand nicht entziehen. "Ausgeschlossen", sagte ich, "ich meine, ich war nie in..." Der Greis lächelte wehmütig. "Ich bin Willi." Ich stürzte in den nächsten Zug. Ich blickte mich nicht um.
wangquao - 22. Feb, 16:50
Heute auf
Ich hielt meinen Blick auf meine Zeitung gerichtet, um nicht entdecken zu müssen, dass Willi vielleicht auch eingestiegen sein könnte; natürlich dachte ich an Brechts Keunergeschichte. Wieso hatte ich mich kaum verändert; wieso war ich nicht annähernd so alt wie Willi, oder kam ich mir nur so vor. Aber Darmstadt, Darmstadt? Dort hatte ich nie studiert, schon aus ästhetischerm Feingefühl. Wie konnte man sich auch nur einen Tag in einem Ort aufhalten, der
ein eher unappetitliches inneres Organ im Namen führte. Ich war in Eichstätt gewesen, katholische Theologie, vierzehn Semester, dieselbe Anzahl wie die Nothelfer, und wie einer von ihnen hieß ich ja auch: Dionysius, kurz und bayrisch Dionys. Aber Willi, profaner Name! Ich habe nie einen Willi gekannt.
Mit dem Verstecken hinter der Zeitung war es vorbei, Willi hatte am anderen Ende der Bank gesessen, hatte alles gehört und rutschte nun auf mich zu.